Hätte hätte Fahrradkette
Das bekommt man gelegentlich zu hören, wenn es um die Frage geht, auf welche Weise sich das neueste Desaster der Corona Politik wohl hätte verhindern lassen. Dann nämlich zum Beispiel, wenn man spätestens im Spätherbst einen Lockdown verhängt hätte, der sich hätte sehen lassen und seinen Namen verdient hätte – zu einem Zeitpunkt zumal, in dem die Bereitschaft der Bevölkerung, sich auch einschneidenden Maßnahmen zu unterwerfen, größer gewesen wäre als jetzt. Oder, anderes Thema, wenn man mehr impfstoff, und diesen früher bestellt hätte. Oder: wenn man im Sommer, als manche sich mit der stillen Hoffnung trugen, die Sache mit dem Virus sei vielleicht doch schon überstanden, sich systematisch um die Situation an den Schulen gekümmert hätte. Undsoweiter undsofort.
Dann heißt es manchmal: „Hätte hätte Fahrradkette“. Der Spruch erregt Unbehagen bei mir, er hat das immer getan; es verdichtet sich im Augenblick. Offenbar soll die Sinnfreiheit des Reimes die Sinnfreiheit von Überlegungen demonstrieren, die sich im Irrealis bewegen, verpassten Möglichkeiten durchspielen und darüber nachdenken, was denn wohl gewesen wäre, wenn. Der Krug ist zerbrochen, die Milch verschüttet, warum soll man sich über die Vergangenheit denn bloß Gedanken machen, das blockiert uns doch nur, nimmt uns unsere Energie, die wir so dringend für die Bewältigung der anstehenden Probleme benötigen. Also: wozu sich damit beschäftigen?
Weil, Herr und Frau Fahrradkette, die Gegenwart der Vergangenheit in so vielen Dingen zum Verwechseln ähnlich sieht, dass sie zu einem Teil gar nichts anderes ist als diese Vergangenheit. So auch jetzt: Wir haben Corona, die Fallzahlen sind hoch und es liegt im Interesse aller, sie drastisch zu senken. Und nach wie vor gilt, dass ein konsequenter Shutdown über mindestens drei Wochen das einzige Mittel ist, von dem wir bislang sicher wissen, dass es hilft. Gegenwart und Vergangenheit folgen einander nicht wie auf einer Schnur aufgereihte Perlen, sie bilden ein Kontinuum von ineinander verflochtenen Abhängigkeiten und Übergängen. Die ruckartig aufeinanderfolgenden Jetztpunkte, die nichts miteinander zu tun haben, diese kleinen Einzelkämpfer in Reih und Glied – all das, was die stoßweisen drei Worte des Merkverses so schön ausdrücken, ist das Fundament der Ideologie, man könne nichts aus der Vergangenheit lernen, weil sie eben Vergangenheit damit vorbei und abgetan sein.
In Wahrheit jedoch haben wir nichts als die Vergangenheit, um zu lernen. Fehler sind das beste Material der Erfahrung; wer keine macht, hat aus den vergangenen gelernt, die sie oder er in dem Sinne als gegenwärtig begriffen hat, als sie jederzeit wieder gemacht werden können. Lernen heißt einkalkulieren, dass man nicht lernen könne und dass man nichts gelernt habe. Er setzt Misstrauen sich selbst gegenüber voraus: Bedingung der Möglichkeit von Reflexion. Nicht „Hätte hätte, Fahrradkette“, sondern – ich komme ein zweites Mal auf Aischylos zu sprechen – pathei mathos, „Lernen durch Leiden“ ist das Gebot der Stunde. Das heißt: Wieder und wieder ist zu analysieren, was aus welchen Gründen falsch gelaufen ist, und wie man es hätte anders machen können nur dann besteht Aussicht darauf, dass man es dann auch wirklich anders macht. ‚Dass uns „Hätte hätte“ rette‘ oder so.
Die Verzeihung
Die Bundeskanzlerin hat uns um Verzeihung für den Oster-Fauxpas gebeten, der der Ministerpräsidentenkonferenz, zugleich übererregt und übermüdet, Montag nacht kurz vor drei Uhr passiert ist. Gleichzeitig hat sie die alleinige Verantwortung dafür übernommen. Das ist anständig, es ist auch umfassend gewürdigt worden, aber ist es auch ehrlich? Eher hat man den Eindruck, sie decke die Runde, die es als politisches Organ eigentlich nicht gibt und die ihre Existenz nun immer weniger mit ihren Erfolg legitimieren kann.
Wie genau die Diskussions und Entscheidungsprozesse am Montagabend abgelaufen sind, weiß wohl niemand genau, der nicht dabei gewesen ist. Aber es spricht einiges dafür, dass die Diskussionen um den „kontaktarmen Urlaub im eigenen Land“, der von den nördlichen Bundesländern beantragt worden war, um für den Mallorca-Wahnsinn irgendwie entschädigt zu werden, vollkommen verfahren waren. (Man muss sich übrigens fragen, ob dieser Punkt überhaupt so wichtig ist und ob es nicht ein Symptom der Strategielosigkeit im Umgang mit der Pandemie ist, dass darüber so sehr gestritten wurde.) Einer der Teilnehmer sprach davon, wie er 5 Stunden auf einen leeren Bildschirm gestarrt habe, ohne im mindesten zu wissen, wie es denn nun weiter gehen würde.
Angesichts dessen, in diesem zähen Nichts aus Anspannung und Langeweile [1] kam der Vorschlag des strengsten Lockdowns aller Zeiten zu Ostern, der von der Kanzlerin kam, aber wahrscheinlich von Helge Braun lanciert wurde, gelegen wie eine paradoxe Erlösung. Wenn man nicht haben kann, was man sich wünscht, ist es am besten, allen den Spaß zu verderben. Ihr dürft nicht nur nicht in die Ferien fahren – Mallorca natürlich ausgenommen –: ihr sollt, das heißt: wir sollen stattdessen ganz und gar zu Hause bleiben, uns vollständig isolieren und das Osterlamm alleine essen. Es ist die Gerechtigkeit der Eltern, die alle Kinder schlagen, weil sie nicht herausfinden können, wer denn der/die Schuldige war.
Das ist miserable Pädagogik. Wird sie auf Menschen angewandt, die eigentlich ja keine Kinder mehr sind, ist der zu erwartende Verdruss groß. Nach der langen Nacht dürfte beim politischen Katerfrühstück den einen oder anderen aufgegangen sein, dass es keine so gute Idee war, in einem Wahljahr zudem, in dem das Volk sich eine andere Regierung wählen kann. Da Merkel nicht mehr zur Wahl steht, trat sie vor und erklärte sich zur alleinigen Schuldigen eines Systemversagens.
Wenn sie freilich überhaupt in dieser Sache eine Schuld trifft, dann wohl die, den deutschen Föderalismus, der an sich eine gute Sache ist, von seiner widerwärtigsten Seite gezeigt, ja ihn in diese Richtung systematisch verzerrt zu haben: in die eines ewig quengelnden Eigensinns nämlich, der den Bund, der in Gesundheitsfragen nun mal nichts wichtiges zu sagen hat, zeigt, wo er hingehört – „wo der Kuckuck wächst“, wie eine ehemalige Lehrerin von mir immer sagte.
Da liegt das Systemproblem. Merkel hätte dafür um Verzeihung bitten müssen, um Verzeihung gebeten zu haben und eine Ländersache in personam auf den Bund geschoben zu haben. Dass es nun so aussieht, dass die Länder alles richtig machen und der Bund alles falsch, ist nicht bloß falsch. Es verunklart ein weiteres Mal die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, die aus den föderalen System sich ergeben. Und ja, eine Entschuldigung wäre dies wert gewesen.
[1] Alexander Kluge macht diese bleiernde Unausgefülltheit der Zeit, Verwirrung und Langeweile, für eine der katastrophalsten außenpolitischen Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte verantwortlich: die einsame Entscheidung Genschers, Kroatien als unabhängigen Staat anzuerkennen. Vgl. A. Kluge: Gefangen im Nirgendwo, H.D. Genscher in der jugoslawischen Provinz, in: Chronik der Gefühle, Band 1: Basisgeschichten, Frankfurt am Main 2000, 227-231.
Noch einmal: Die Verzeihung
Hinter den partei- und wahltaktischen Überlegungen, die die Bundeskanzlerin dazu veranlasst haben könnten, sich zum Opfer anzubieten und als Prellbock der sich zunehmend lächerlich machenden Ministerpräsidentenkonferenz zu fungieren, mögen noch bestimmte kulturelle Gewohnheiten wirksam gewesen sein. Im Moment der Krise dirigierten sie das Verhalten.
Auf der einen Seite: die Mischung aus Preußentum und Protestantismus, der Selbstbezichtigungen eine Lust sind. Das Christentum im allgemeinen, der Protestantismus im besonderen haben ein narzisstisches Verhältnis zur Schuld, Nietzsche hat das wieder und wieder angegriffen und für das Grundübel der europäischen Zivilisation befunden. Aus dieser Mischung ergibt sich eine Art perverse negative Autonomie: Indem ich alle Schuld auf mich nehme, spreche ich anderen im vorhinein das Recht ab, über mich zu urteilen; ich nehme ihnen sozusagen den Wind aus den Segeln. Schuld ist Verantwortung, und Verantwortung ist Macht: so ungefähr ließe sich das selbstverliebte Verhältnis mancher Protestanten und Protestanten zur Schuld und zum Reden über die eigene Schuld beschreiben.
Auf der anderen Seite stehen die sozialistischen Schauprozesse, die öffentlichen Selbstanklagen, Bucharin und Co., die die eigene Person der Sache öffentlich zum Opfer bringen. Man lässt sich erschießen, geht ins Arbeitslager, gesteht ungeheuerliche und künstlich aufgeblähte Verbrechen ein, – und zwar nicht, um davonzukommen (die Chance hatte man meist gar nicht), sondern um wenigstens als verurteiltes Wesen rehabilitiert zu sein, den Namen zu retten und sich als Teil des großen Gesamtkörpers der sozialistischen Gesellschaft zu fühlen. So ähnlich müssen die Märtyrer sich gefühlt haben, die geschunden, gepfühlt und gesteinigt wurden, gerade aber durch den alles Vorstellen übersteigenden Schmerz Teil des Körpers der christlichen Kirche wurden, der sie unsichtbar erfüllte und trug.
Beide sind also ähnlichen Wesens; in beiden Traditionen, wie immer sie miteinander Zusammenhängen, wird ein Narzissmus der Schuld kultiviert, über die der oder die einzelne sich mit dem Allgemeinen verbindet, kurzschließt, und damit in seiner / ihrer Bedeutung erhöht wird.
Schamkultur und Schuldkultur
Sich ständig was Neues ausdenken und immer wieder denselben Fehler zu machen – es sind zwei Seiten derselben Medaille. Diese Medaille ist das Erkennungszeichen der Politik viele Länder, die sich weigern, aus den eigenen Fehlern etwas zu lernen, weil sie befürchtet, beim Wahlvolk würde nur die erste Hälfte dieses Vorgangs hängen bleiben: das nämlich ein Fehler eingeräumt wurde. Vielleicht aber ist das Wahlvolk gar nicht so begriffsstutzig und die schlechte Meinung, die manche Politiker innen von ihm zu haben scheinen, ist selbst nur ein Vorwand und eine Rationalisierung von einen tiefer liegenden Prozess.
Die große Unterscheidung zwischen Schamkultur und Schuldkultur, die Erec Robertson Dodds in seiner Vorlesung über „Die Griechen und das Irrationale“ gemacht hat, bezeichnet nicht einen ein für alle Mal erreichten zivilisatorischen Fortschritt. Es gibt vielmehr viele Anzeichen dafür, dass wir dabei sind, hinter ihn zurückzufallen. Und dies nicht erst seit Corona, sondern seit einigen Jahrzehnten.
Worin unterscheiden sich Scham und Schuld? In einer Gesellschaft, die durch Konzepte von Scham, Ehre, Ansehen etc. zusammen gehalten wird, kann ich zum Beispiel stehlen. Ich darf dabei nur nicht erwischt werden. Ein Unrecht ist nur dann ein Unrecht, wenn es öffentlich wird. Scham und Ehre stehen im Zentrum einer materiellen Ethik – materiell deswegen, weil sie sich im BLICK und im GEREDE der anderen materialisiert. Mein gesellschaftlicher Körper setzt sich aus diesen Blicken und diesen Reden zusammen; ich bin, was sie über mich denken und sagen (könnten).
In einer Schuldgesellschaft dagegen ist es immer falsch, zu stehlen. Ich habe den Wertekodex verinnerlicht, er ist in mich eingedrungen und zu einem Bestandteil meiner selbst geworden, der immer wirksam ist – so ähnlich, wie in der zivilisationsgeschichtlichen Konstruktion, die Freud in ‚Totem und Tabu‘ aufgemacht hat, der die Söhne terrorisierende Vater nach seiner Ermordung zu einem Teil ihrer selbst wurde und sie in Form des schlechten Gewissens nicht mehr verließ – so ähnlich, wie es sich in jedem Erziehungsvorgang aufs Neue abspielt, in dem das System der elterlichen Werte zum dauerhaften Verhaltenskodex der Kinder werden soll.
Das wäre, wenn es nur das wäre, natürlich einfach nur schrecklich. Aber es ist nicht nur das. Die Schuldgesellschaften haben gegenüber den Schamgesellschaften auch einen großen Vorteil. Sie bieten nämlich die Möglichkeit, der Schuld ledig zu werden. Die rituelle Entsühnung, Vergeben und Verzeihen, die göttliche Gnade, oder eben das als Aischyleische DURCH LEIDEN LERNEN sind Varianten dieses Verfahrens.
In einer Schamgesellschaft ist dergleichen nicht möglich. Ist der Name einmal befleckt, ist nicht vorstellbar, den Makel abzuwaschen. Oder eben nur materiell, in dem ich mich oder denjenigen, der den Marke benannt und öffentlich gemacht hat, töte. Oder schließlich – und das katapultiert uns zurück in die Gegenwart –, in dem ich den Makel gar nicht als Marke anerkenne, oder indem ich andere dafür verantwortlich machen, Sündenböcke suche etc.
Das bedauernswerte Schauspiel, dass sich Politikerinnen an ihrem Posten festklammern, weil sie offenbar kein Bewusstsein davon haben (jedenfalls kein öffentliches), für einen Fehler verantwortlich gewesen zu sein und jetzt daraus die Konsequenzen ziehen zu müssen; das Feuern von Subalternen an der Stelle des Rücktritts von Vorgesetzten; die Dreistigkeit, mit der gegen die Realität angelogen und der Sachgehalt von Vorwürfen schlicht geleugnet wird – dieser ganze Phänomenkomplex ist ein erster Aspekt, der den Verdacht nähert, dass wir uns nicht nur gelegentlich, sondern systematisch auf dem Rückweg in eine Schamkultur befinden. Die Rolle der Medien und der Umgang mit Ihnen, die sich zum Auge und zur Stimme der anderen rematerialisiert haben, die den Einzelnen nicht zur Schuld, sondern zur Schande und Lächerlichkeit verurteilen (ein Prozess, der wahrscheinlich durch die digitalen Medien befeuert wurde und von ihnen auf die traditionellen zurückschlug), ist ein zweiter Aspekt. Ein dritter ist die Durchwucherung des demokratischen Gemeinwesens von den Clans und ihrer Mentalität. Dabei denke ich nicht bloß an irgendwelche Familien, die in Neukölln ihr Unwesen treiben. Der mafiose Filz betrifft alle, er ist tief in den gesellschaftlichen Alltag eingedrungen. Das Ärgerliche an der Maskenaffäre ist für die CDU doch nur, dass sie sich haben erwischen lassen; das System, dass eine Hand die andere wäscht, ist so alt wie die Partei selber. Der Clan, der durch Loyalität statt durch Moralität zusammen gehalten wird; die klare Scheidung von Innen und Außen, die sein soziales Prinzip bildet; die Ansicht, dass schmutzige Wäsche grundsätzlich intern, in der Familie gewaschen wird – es bestimmt mittlerweile Politik und Arbeitsleben gleichermaßen.
Vor allem aber die Unfähigkeit, Fehler zu integrieren und dadurch überhaupt etwas zu lernen. Stattdessen: das Sündenbock-Prinzip. Was Angela Merkel am Mittwoch produzierte, war: Schamkultur im Gewand von Schuldkultur. Sie machte sich zum Sündenbock, häufte alles auf sich; dadurch wurde der gute Name des Clans MPK erhalten, die sich nun, NRW und Berlin gehen voran, daran macht, unter dem Schutzschirm eines universellen Schuldeingeständnisses, das keines war, die eigenen Beschlüsse von vorgestern zu unterminieren und damit Fehler zu begehen, die viel gravierender sind als die angeblich persönliche Schuld der Bundeskanzlerin.
Intelligenz lebt unten
Mir wird immer klarer, dass die Coronakrise nur lokal gelöst werden kann. Nur die lokale Selbstorganisation wäre stark und motivierend genug, uns zu schützen. Den Schulleiter:innen, Hausärzt:innen, den Veranstaltern und Veranstalterinnen, Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen, den Lehrern und Lehrerinnen – ihnen allen wären Rechte und Mittel zu zugestehen, den Laden, den sie am besten kennen, in Ordnung zu bringen und in Ordnung zu halten. Fehler müssen schnell verziehen sein, weil sie in einer Krise normal sind, aber nichts schlimmer ist als wenn daran festgehalten wird, weil man sich außerstande sieht, sie einzugestehen. Dann wäre diese Krise auch eine Chance für eine Gesellschaft, sich, anstatt autoritär zu verdummen, zu einem lernenden System zu entwickeln, das die Intelligenz, die unten lebt, sich zu eigen macht.
Wolfram Ette
Eins, zwei, drei, oder: Vom historischen Wert der Abzählverse
Es gab mal Zeiten, da habe ich kleine, hübsch gekrönte Abzählverse geschrieben, dem Vorbild folgend, das man in Pausenhöfen vor sich hat, bevor die Kinder ihre eigentlichen Spiele beginnen. Die Sprüche waren alle um die Zahl „Sechs“ zentriert und hatten, um’s gleich ehrlich zuzugeben, in dichterischer Hinsicht nur bedingt einen Wert (so ist das nun einmal mit diesem Genre). Gemacht hatte ich die Reime trotzdem, denn mich interessierte die Beschwörung der kleinen (aber nicht gar zu kleinen) Zahl, die man fest in die Hirne hatte einprägen wollen.
Die Tatsache, dass ich damals Reime schmiedete, um von der Eins hinaufzuzählen bis zur Sechs, ist in einer Hinsicht jedoch von wahrem, diagnostischem Interesse: Zumindest weiß ich jetzt noch (weil ich vor ziemlich genau einem Jahr herumreimte), dass es schon damals nötig schien, herumzureimen. Will heißen: Schon damals versuchte die Politik, mit der Zahl „sechs“ die Gefahr zu bannen und eine Art Ausgleich zu finden zwischen der Grösse von Kleinfamilien (Papa, Mama, zwei Kinder) und dem Bedürfnis derselben, sich durch Kontakte nach Außen die Brust zu weiten (vier + zwei macht sechs).
Es nimmt sich dieses Detail aus wie ein Bild für die Gesamtentwicklung: Man variiert die immer gleichen Maßnahmen und wundert sich, warum sie, obwohl sie schon einmal nicht recht geholfen haben, das zweite und dritte Mal auch nicht helfen. Gleichzeitig gilt auch das Gegenteil: Man versucht immer neue Dinge aus, doch immer nur in einem gewissen Rahmen, der abgesteckt wird durch das, was in die Köpfe von Ministerialbeamten generell hineinpasst. Die besten Köpfe haben einen Umfang, der es ihnen erlaubt, bis drei zu zählen – „eins, zwei, drei“ –, und die ganz, ganz hohen, bestbezahlten Kategorien („Kategorie A“ heißen sie im französischen System) schaffen’s sogar, zweimal bis drei zu zählen: „Eins, zwei, drei“, „Eins, zwei, drei“.
Ich bin der rechnerischen Überzeugung, dass wir jetzt die „dritte Welle“ haben, weil die meisten Beamten nicht bis drei zählen können, die besten aber nur, wenn sie sich wiederholen. Die Sechser-Regel, die draußen gelten soll, ist als wahres Wunderwerk ministerialen Erfindungsreichtums einzuschätzen (man hat’s, krisenbedingt, doch hinauf bis zur Sechs geschafft!), auch wenn dies nicht viel an der Tatsache ändern wird, die darin besteht, dass wir gerade voll in die „dritte Welle“ eintauchen, die man natürlich nicht hat kommen sehen, weil man ja nur mit zwei Beinen im Leben steht und geht, und daher bei jedem neuen politischen Schritt immer nur vor sich hinmurmelt: „eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei“.
Covid-19: les rassemblements de plus de 6 personnes en extérieur interdits sur tout le territoire (msn.com)
Coronavirus : „L’incitation à se voir dehors ne doit pas être comprise comme une absence totale de risque“, juge une spécialiste des crises sanitaires (msn.com)
Jetzt war Virus oder: Phantasielosigkeit
Man erfährt von einem hohen Vertreter der Pariser Krankenhäuser, es seien seit der ersten Welle noch nie so viele Patienten auf einmal in die Krankenhäuser oder ihre Intensivstationen gebracht worden wie gerade jetzt. Ich selbst setze in Gedanken hinzu – wer wüsste das nicht! –, dass die „britische“ Variante sehr viel ansteckender und gefährlicher ist, so dass diese Tendenz also noch eine ganze Weile so weitergehen wird. Und das ist ja in der Tat das, was mindestens seit Dezember von Epidemolog:innen vorausgesagt wurde. Es sei eine ganz einfache Rechenaufgabe durchzuführen, das Ansteckungsgeschehen sei ohne jeden Zweifel voraussagbar.
Die grosse, kaum fassliche Frage lautet also, wie der Präsident glauben konnte, es werde anders sein? Und wie kann ein ganzes Land folgen, obwohl doch all diejenigen, die sich wirklich mit dem Thema auskennen, einhellig darauf hinwiesen, es werde kommen, wie man sage? Wie kann man blind in etwas hineinlaufen, was die gesamte Gesellschaft in Gefahr bringt: sozial, ökonomisch, psychologisch, von der Stabilität des gesamten, politischen Systems her? Wie konnte es passieren, dass Alternativen, die sich als gangbar und erfolgreich erwiesen hatten, wie selbstverständlich ignoriert, ja noch nicht einmal in Ansätzen diskutiert oder gar ausprobiert wurden?
Es ist nichts Selbstzerstörerisches am Werk. Ich glaube nicht, dass Todessehnsucht wirkt. Ich glaube, es ist im Gegenteil eine Mischung aus dem Gefühl von Unverletzlichkeit und Phantasielosigkeit, die die Politik antreiben. Phantasielosigkeit vor allem. Man steckt so tief im Gewohnten, dass man sogar, wenn man die Gewohnheiten wegen einer Pandemie ändern muss, gleich wieder diese neue Gewohnheiten festzurrt und von diesen nicht mehr wegkommt, obwohl eigentlich eine permanente Selbstkorrektur vonnöten wäre.
So aber geschieht das Gegenteil: Man tut nichts (zumindest nichts Entscheidendes), man wartet, lässt die Gefahr kommen, wundert sich ein bisschen, wenn sie da ist und immer schlimmer wird, doch auch dann wartet man noch, tut nichts, hofft, die Impfstoffe würden was Entscheidendes ändern, auch wenn noch nicht klar ist, wann sie genau eintreffen werden. Aber auf jeden Fall ist die Entscheidung schon mal delegiert, und inzwischen wartet man und sieht zu, wie die Menschen, die nie eine Impfung bekommen werden, weil sie die Krankheit leid