Spätrückkehrertum
Als Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit ihren Familien in die Ferien aufbrachen, schieden sich zwei Kategorien: Die einen kauften Flugtickets für eine Rückkehr, die die Einhaltung der Quarantäne von sieben Tagen erlaubten. Das waren die Reisenden, die eine Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft sahen. Die anderen nutzten ihren ganzen Urlaub und kauften Tickets für die Zeit unmittelbar vor Schulbeginn. Das waren diejenigen, die Gegenwart und Zukunft – Urlaub und Arbeit – voneinander trennten.
Diese zweite Kategorie splitterte sich ihrerseits in zwei Unterkategorien auf. Die erste ließ sich von der Erwägung leiten, niemand habe ihnen die Pflicht auferlegt, den Urlaub so zu planen, dass die Quarantäne noch in die Ferienzeit fiel. Das waren diejenigen, die einfach Ferien machen und, pünktlich zu Schulbeginn, wieder mit der Arbeit beginnen wollten. Von der Gegenwart der Ferien wollte man vorschriftsgemäß in die unvermeidliche Zukunft des erneuten Beginns der Arbeit übergehen. Vorschriftsgemäß, aber ohne jeden Gedanken an die möglichen Folgen. Man betrachtete die Arbeit als etwas, in das man hineinkippte, nicht als etwas, für das man irgendwie Verantwortung würde übernehmen müssen.
Die zweite Kategorie handelte ganz wie die erste, doch ihre Motive waren anders: Auch diese Reisenden wollten die ganzen Ferien ausnutzen, spekulierten aber zusätzlich darauf, dass das Ministerium kurz vor Schulbeginn die katastrophale Situation sehen würde, die dann entstanden sein würde. Man würde als Lehrerin oder Lehrer direkt vor Schulbeginn der Quarantäne unterworfen werden, so lautete das Kalkül, gewann also eine zusätzliche Ferienwoche, dieses Mal zwar zuhause, aber immerhin, denn gereist war man ja schon und bezahlt werden musste man auch, wenn man nicht zur Schule ging.
Jetzt hat das Ministerium diesen Spät-Rückkehrern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Lehrerschaft wurde bekannt gegeben, dass die pünktliche Wiederaufnahme der Arbeit verpflichtend sein werde, auch wenn keine Quarantäne und kein Test absolviert werden können. In einer sich dramatisch zuspitzenden Situation werden also Beamte vor ihre jeweiligen Klassen gestellt, ungeachtet der Tatsache, dass ein bestimmter Prozentsatz den Virus in sich trägt.
Zugleich wird jedoch per Erlass der Schulbehörde den Schülerinnen und Schülern mitgeteilt, dass sie, anders als die Spätrückkehrer unter der Lehrerschaft, nicht das Recht hätten, zur Schule zu kommen, wenn sie nicht zuvor die Quarantäne und den Test absolviert hätten. Die Schülerschaft, die endlich wieder an’s Lernen herangeführt werden soll, darf also nur lernen, wenn sie kein Sicherheitsrisiko darstellt, doch den Lehrerinnen und Lehrer, die das Lernen anführen, wird erklärt, dass sie, weil sie verpflichtend eine Maske tragen würden, kein Sicherheitsrisiko darstellen, denn dafür sind sie nun einmal Beamte, die sich die Länge ihres Urlaubs nicht nach Belieben aussuchen dürfen.
Man wohnt also vom Ton her zunehmend streng gebenden Bekanntmachungen an die Schülerschaft bei, die im totalen Kontrast zu den sich zunehmend streng gebenden Bekanntmachungen an die Lehrerschaft steht. Der Schülerschaft wird eingeschärft, sie dürften die anderen nicht gefährden, der Lehrerschaft, sie dürften nicht nicht unterrichten, gern aber gefährden. Ein bestimmter Prozentsatz der Schülerschaft wird also nicht unterrichtet werden, da sie zu spät aus den Ferien zurückgekommen ist, doch die Spätrückkehrer in der Lehrerschaft werden auf die übrige Schülerschaft losgelassen, damit unterrichtet werden könne. Oder auch so: Die Schülerinnen und Schüler, die etwas lernen sollen, werden als untragbar ausgeschlossen. Die Lehrerinnen und Lehrer, die sich in exakt derselben Situation befinden wie diese aus der Schule verbannten Schülerinnen und Schüler, werden hingegen gerade nicht aus der Schule verbannt, sondern im Gegenteil in aller Entschiedenheit auf Präsenz und Pflicht eingeschworen.
Für die Kinder, die gar nicht gereist sind und daher auch kein vom Reisen herrührendes Sicherheitsrisiko darstellen, öffnet der eklatante Widerspruch jedoch eine hübsche Lücke: Wer es für unverantwortlich hält, dass potenziell infizierte Lehrerinnen und Lehrer die eigenen Kinder unterrichten, bis die Krankheit dann wirklich ausbricht und sich in der Klasse verbreitet hat, behauptet einfach, das eigene Kind, das nicht gereist ist, sei gereist, denn dann müssen die Eltern nicht weiter rechtfertigen, warum sie der Schulpflicht nicht nachkommen, sondern ihr Kind Zuhause behalten. Die nicht eingehaltene Quarantäne der Lehrerschaft wird also zum möglichen, administrativen Schutzschild für diejenigen, die während der ganzen Ferienzeit keinen Schritt von der Insel weg getan haben.
Leicht irritierend daran ist an der ganzen Geschichte nur, dass die Kinder, die nicht gereist sind, gern mit den anderen etwas lernen würden, und zwar von denjenigen, die gereist sind und etwas beizubringen haben. Da aber diese Lehrerinnen und Lehrer nur beibringen können, dass sie selbst nichts gelernt haben und genau aufgrund dieses ihres Nicht-lernen-Wollens von Seiten des Ministeriums unter Androhung von Strafen zum Unterrichten verpflichtet werden, kann man sich als Eltern vielleicht sagen, dass das Wichtigste für die eigenen Kinder zur Zeit ist, zu lernen, dass das Nicht-lernen-Können eine wichtige, politische Erkenntnis enthält: Dass sich in den Augen des Ministeriums zumindest auf Seiten der Lehrerschaft der Begriff „Lernen“ unabhängig vom Lernenwollen definiert, dass aber das Lernenwollen der Schüler, die nicht verreist sind, ungescheut dem Nicht-Lernenwollen von Ministerialbürokratie und bestimmten Lehrerinnen und Lehrern unterworfen wird.
Denn das ist die Hauptaussage der Schulbehörde von La Réunion in diesen letzten Tagen: dass die Kinder in der Schule in Sicherheit seien. Andere, verreiste Kinder kommen nicht gleich. Und dass das Spätrückkehrertum der Lehrerschaft ein verbreitetes Phänomen ist, teilt man lieber nur der Lehrerschaft mit, nicht aber der Öffentlichkeit, weil die ja sonst meinen könnte, es könnten dann bitteschön auch die gerade zurückgekehrten Kinder gleich wieder in die Schule gehen.
Schulschließung
Die Rektorin der Schulbehörde versichert öffentlich und über alle Kanäle, in der Schule seien die Kinder in Sicherheit. Ich schicke mein Kind nicht. Mich verunsichert die Sicherheit, mit der Sicherheit behauptet wird. Am Nachmittag des ersten Schultags habe ich einen Termin bei der Schulleiterin. Ich soll die Unterlagen vorbeibringen, die für die Einschreibung meines Sohnes erforderlich sind, der aus gesundheitlichen Gründen ein Jahr lang nicht zur Schule gehen konnte. Mein Sohn begleitet mich nicht. Offiziell ist er krank.
Vor der Schule warten die Eltern darauf, dass sich das Tor öffnet und sie ihre Kinder in Empfang nehmen können. Alle tragen, wie seit kurzem um alle Schulen herum vorgeschrieben, Masken. Die Kinder in der Schule sind ohne Masken, denn sie gelten als zu jung, um eine zu tragen. Ich halte mich abseits, obwohl ich, gewarnt durch die Apothekerin, die kommenden sieben Tage seien besonders gefährlich, mit einer FFP2-Maske aufgebrochen bin. Die ist teuer, doch ich mag mich nicht im Schulgebäude aufhalten und ein Vertrauen zeigen, vor dem ich meine eigenen Kinder warne.
Eine indo-muslimische Mutter, die ich gut kenne, ruft mir von der anderen Strassenseite etwas zu, beunruhigt wirkt sie unter ihrer schwarzen Maske. Vorbeifahrende Autos und die Masken verhindern jedes Gespräch. So kommt sie zur mir herüber, ihren sechsjähigen Sohn, der heute seinen ersten richtigen Schultag hatte, fest an der Hand. Ob ich’s schon wüsste? Die Schule schließe, gleich nach diesem ersten Tag. Da ist es also, das Erwartete. So früh schon. Gleich am ersten Tag. Ich will wissen, warum. Doch bisher sind’s nur Gerüchte, die sich die Eltern gegenseitig weitersagen und die nun sie mir weitersagt: Ein Schüler oder eine Schülerin, die gerade von einer Reise zurück gekommen ist, soll in der Schule gewesen sein. Gesund? Krank? Sie weiß es nicht.
Ich erzähle ihr, dass Schülerinnen und Schüler nicht in die Schule kommen dürfen, wenn sie gerade auf La Réunion eingetroffen und noch ungetestet sind. „Die Lehrerinnen und Lehrer hingegen… „, setze ich an, und sie, meinen Satz mitdenkend und fortsetzend: „… dürfen kommen!“ „Nein !“, rufe ich, jetzt plötzlich ganz aufgeregt : „Anders! Sie dürfen nicht kommen, sondern sie müssen kommen!“ Das wusste sie nicht, und meine Empörung teilt sich ihr mit.
Während die ersten Eltern schon mit ihren Kindern an uns vorüberziehen, zu ihren Autos, die Masken wieder abnehmend, erzählt sie mir, dass sie kürzlich in einem Restaurant gewesen sei, Touristen neben sich, die ihre Koffer dabei hatten. Sie habe gefragt, ob sie direkt vom Flughäfen kämen und doch maskenlos seien? Man solle nicht an unangenehme Themen rühren, habe man ihr geantwortet, es schmecke doch gerade so gut. Da sei sie böse geworden und habe geantwortet, sie rühre darum an dieses Thema, weil’s so unangenehm sei.
Und dann reden wir uns gegenseitig in Rage, beide gleichermaßen zornig darüber, dass man diese Insel so leicht hätte schützen können mit ein paar elementaren Regeln und dass man’s nicht getan hat. Und obwohl diese Frau eine der reichsten der ganzen Stadt ist – sie bewohnt die schönste, kreolische Villa, die sich denken lässt, aus hellgrün gestrichenem Holz, von eleganter Einfachheit, riesig, umgeben von wunderbaren Bäumen, die Jahrhunderte alt sein mögen, und abgeschirmt von der Außenwelt durch eine hohe weiße Mauer, hinter der man beim Vorbeigehen nur ahnen kann, dass auch drinnen alles von exquisitestem Geschmack ist, wie es sich für einen international tätigen Banker, wie ihr Mann einer ist, eben gehört –, obwohl, sage ich, diese Frau privilegierter ist als die Privilegiertesten, ist sie doch ganz von hier, ganz verankert in dem Gedanken an das Wohl der Insel und daher nicht weniger wütend als ich auf den Übersee-Minister, der maskenlos den Applaudierenden die Hand reicht, ohne die Quarantäne oder einen Test absolviert zu haben, und gleichzeitig doch die Bevölkerung beschuldigt, nicht diszipliniert genug gewesen zu sein. Hier, auf diesem Bürgersteig sehen wir beide das Resultat seiner Politik, und es weht ein Hauch von sozialer Revolte an der sich leerenden Schule vorbei, einer Revolte gegen die Reisenden und ihre Selbstverständlichkeiten.
Und um den kleinen Jungen einzubeziehen, der noch immer in seiner entzückenden Schönheit an der Hand seiner Mutter wartet und uns zuhört, sage ich tröstend, dass er sicher bald wieder in die Schule darf. „Ja, zuhause“, sagt er, zu mir aufblickend, und scheint mit seinen sechs Jahren gar nicht erstaunt zu sein, dass Schule und Zuhause identisch sind, denn seine Mutter fand, dass die Schulpflicht, die unter Macron für Kinder ab drei Jahren eingeführt wurde – Ausnahmen wurden plötzlich nicht mehr geduldet, obwohl es eh nur ein kleiner Prozentsatz von Familien war, der die Kinder nicht schon mit drei Jahren schickte –, ein großer Blödsinn sei und hat Wege und Mittel gefunden, um ihr Kind nicht zu schicken, sondern es bis zum sechsten Lebensjahr zuhause bleiben zu lassen. Wir beiden also werden klar kommen: Wir wissen, wie.
Aber drüben, am Zaun, wo immer neue Klassen von ihren Lehrerinnen und Lehrern zum Tor geführt werden, herrscht eine Stimmung, wo man sich des „Wie“ nicht so sicher ist. Die Lehrerinnen und Lehrer sind jetzt alle da, abgetrennt durch ein Eisengitter von den noch diskutierenden Eltern. Ich überreiche der Direktorin meine Unterlagen, drücke mein Bedauern über die Schulschließung aus, versuche, die Stimmung herauszufühlen. So viel Vorbereitung und Arbeit umsonst! sage ich mitfühlend. Hinter ihrer Maske wirkt sie verzweifelt. Ich ermutige sie, danke ihr mit immer neuen Worten für ihre Arbeit. Sie werde noch nicht einmal die Eltern kontaktieren können, klagt sie, denn die Schulbehörde habe vor drei Tagen sämtliche Adressen gelöscht. „Sehr vorausschauend“, sage ich, und merke, dass die Ironie über dieses Chaos in mir immer stärker durchbricht. Alles, was ich mir vorher dachte, trifft ein, alles, was mir voraussagbar erschien, wird jetzt gesagt. „In der Schule sind die Kinder in Sicherheit.“ Die Rektorin hat gesprochen.
Emma, alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Söhnen, hat nur eine geringe Schulbildung, doch auch sie ist da mit ihrer ganzen praktischen Klugheit, mit all ihrer Phantasie und Wut, begleitet von ihren Kindern, die, nachdem wir uns am Abend zuvor abgesprochen hatten, nicht zur Schule gegangen sind, sondern Krankheit vorgeschützt haben wie mein eigenes Kind. Jetzt will sie wenigstens die Lehrer sehen und irgendwie an die Schulbücher herankommen. Sie weiss nicht im geringsten, wie sie allein den Unterricht schaffen soll, denn sie hat kein Geld für einen funktionierenden Internetanschluss. So unterschiedlich wir beide auch sind – sie ist, neben der Frau des Bankers, meine zweite Bündnispartnerin. Ich schlage ihr vor, dass ich ihr Unterrichtsmaterialien vorbeibringe, die mein Sohn im letzten Jahr benutzt hat. Ich versuche, mir auszudenken, wie ich mich nützlich machen könnte. Ihr jüngerer Sohn kann, obwohl schon in der zweiten Klasse, noch immer nicht lesen.
Plötzlich steht der Lehrer meines eigenen Sohnes hinter’m Zaun, der sagt, dass auch er nichts Genaues wisse und, entgegen meinen Hoffnungen, keine Schulbücher zu verteilen habe. Die ganze Zeit kann er nicht aufhören, mit dem Kopf zu schütteln. Wir beiden wissen gut, dass die Projekte, die wir uns vorgenommen haben, um den Deutschunterricht an der Schule zu stärken, immer unwahrscheinlicher werden. Und obwohl er erst behauptet hat, er wisse nichts, weiss er dann doch etwas, doch er sagt es mir heimlich und in rudimentärem Deutsch, damit niemand anderes merkt, dass er’s weiss : „Eine Lehrerin ist krank.“ Ich verstehe ihn nicht gut, bin nicht sicher, ob das jetzt als verlässliche Information zu werten ist, aber immerhin weiss ich: Es passiert, was passieren musste.
Und dann trennen wir uns, und ich gehe wieder nach Hause, die FFP2-Maske immer noch vor’m Gesicht, erstaunt darüber, dass es sich unter ihr so viel besser atmen lässt als unter den dicken Stoffmasken, die ich gekauft oder selbst genäht habe. Das sollen also die Masken sein, unter denen es nur die Profis aushalten?
Zuhause angekommen, berichte ich meiner Familie, was ich erfahren habe. Mein Sohn stösst einen Erleichterungsschrei aus. Er versteht sofort, dass er potenziell eine Gefahr für seine Schulkameraden besteht, dass er selbst aber raus und spazieren gehen kann, wann immer er will, denn er muss nicht mehr den Kranken spielen.
Am nächsten Tag erfahre ich durch die Zeitung, dass eine Lehrerin vor drei Tagen an den Vorbereitungstreffen der Lehrerschaft teilgenommen, mit allen KollegInnen zu Mittag gespeist, und an diesem Montag, wie von der Unterrichtsbehörde gefordert, ihre Klasse unterrichtet hat. Es ist nicht zu erfahren, wann an diesem ersten Schultag die Nachricht eintraf, dass ihr Test positiv ausgefallen war, aber sicher ist, dass er positiv ist, dass sie mit ihren KollegInnen zusammen gegessen und ihre Arbeit gemacht hat. Dass sie mit ihren KollegInnen zu Mittag speiste, war natürlich nicht verlangt worden, doch die Kollegialität ist verteidigenswert, und wer fordert, dass die Lehrerschaft, egal ob gereist oder nicht, gemeinsam den ersten Unterrichtstag vorbereiten solle, muss eben auch damit rechnen, dass die Lehrerschaft gemeinsam zu Mittag speist. Und da man nur zu Mittag speisen kann, indem man die Maske abnimmt, ist die beruhigende Botschaft, die die Zeitungen verbreiten und die besagt, die infizierte Lehrerin habe während ihres Unterrichts eine Maske getragen, wenn sie den vorgeschriebenen Abstand von einem Meter nicht wahren konnte, zwar in den Augen der Autoritäten beruhigend, die behaupten, in der Schule seien die Kinder in Sicherheit, nicht aber in den Augen des Kollegiums, das mit der maskenlosen Lehrerin zu Mittag gespeist hat, jenseits der Vorstellung, dass jemand, der gerade von einer Reise zurückkam, besser mit einer Maske gespeist hätte.
Ich hab‘ alles verstanden
Ein Schüler eines Gymnasiums in Bras Panon wird am Freitag vor Schulbeginn positiv getestet, doch weder er noch seine Eltern verstehen, was das Ergebnis bedeutet. Der Schüler geht also am Montag, weil die Schule wieder beginnt, zur Schule. Als bekannt wird, dass der Schüler nicht da hätte sein dürfen, wo er ist, wird er nach Hause geschickt. Die anderen Schüler befragt man, ob sie die Regeln respektiert hätten. Alle bestätigen, dass sie die Regeln verstanden und eingehalten haben. Die Klasse also bleibt offen. Die Schulbehörde gibt bekannt, es bestehe keine Gefahr. Die Regeln sind ja respektiert worden.
Jetzt bleibt bloß zu hoffen, dass der Schüler, der weder das Testergebnis noch die Regeln verstanden hatte, der einzige ist, der die Regeln nicht verstanden hat. Denn wenn auch die anderen Schüler nur sagen, sie hätten die Regeln verstanden, obwohl sie sie in Wirklichkeit nicht verstanden haben, hätte die Schulbehörde nicht verstanden, dass es in sozialen Brennpunkten mit geringem Bildungsgrad, wie er hier vorliegt, nicht immer so einfach ist, zu sagen, was Verstehen bedeutet und was nicht.
Festhaltenswert bleibt darüber hinaus, dass die Chefin der Schulbehörde öffentlich erklärt, es sei gut, dass der Fall gleich am ersten Tag aufgetreten sei und nicht später, weil nämlich dann sämtliche Klassen wieder Einzug ins Gymnasium gehalten hätten und viel mehr Schülerinnen und Schüler anwesend gewesen wären. Das versteh‘ ich nun wieder nicht. Wenn keine Gefahr besteht, weil alle alles verstanden haben, ist’s doch schnurz, ob nur zwanzig Schülerinnen und Schüler betroffen sind wie jetzt oder mehr, oder etwa nicht?
Wollen und Können
Eine Kollegin und Freundin, der ich schreibe, damit sie als Elternvertreterin auf eine Veränderung in der Organisation der Kantine dringe – 2000 Kinder essen dort – antwortet mir: „Anne je ne comprends pas tes enfants ne vont pas à l’école et pas à la cantine…. pourquoi tu t’énerves. […] Tout le monde ne peut pas comme vous garder ses enfants à la maison c’est mettre en grande difficulté des familles que de tout fermer.“ („Anne, ich verstehe nicht, deine Kinder gehen doch nicht in die Schule, und auch nicht in die Kantine… warum regst du dich auf… Nicht alle können wie ihr ihre Kinder zu Hause behalten. Alles zu schließen bedeutet, Familien in große Schwierigkeiten zu bringen.“)
Das Problem liegt im Wort „können“. Wir können unsere Kinder nicht Zuhause behalten und wir wollen es auch nicht, denn besser wär’s für sie, sie könnten gehen. Wir arbeiten alle beide, also ist es nicht möglich, sie nicht zur Schule zu schicken. Und doch schicken wir sie nicht, denn wir wollen, dass wir können, was wir nicht können und was niemand will, auch wir nicht. Und wir wissen, dass andere Eltern – die, die ihre Kinder nicht allein unterrichten können, weil sie weder eine Internetverbindung noch die entsprechende Bildung haben – ihre Kinder auch nicht schicken, schlicht weil sie Angst haben. Die Überzeugung, wir seien ohne soziale Sensibilität, erscheint mir als Verteidigung einer Position der Privilegierten, die nur darum behaupten, an die Armen zu denken, weil sie dann selbst nicht daran denken müssen, wie eine allgemeine Schulschliessung, die auch die Armen beträfe, vermieden werden kann. Denn das ist das Ziel meines Protestes: dass niemand wollen muss, was er nicht wollen kann. Dass alle tun können, was sie wollen, nämlich: die Kinder zur Schule zu schicken, ohne Unterschiede.
Absehen
Isabelle hat ihre Arbeit als Richterin aufgenommen, als sie den Test gemacht, das Ergebnis jedoch noch nicht erhalten hatte. Sie fühlte sich sicher.
Am Montag – dem ersten Schultag – schließt die Grundschule ihrer Tochter nach dem Bekanntwerden eines Covid-Falls in der Lehrerschaft. Und sie, die sie ihre Tochter geschickt hat, äußert in einer Mail an die Freunde im Inbrunst der Empörung, sie habe es klar kommen sehen.
Zwei Tage später, dieses Mal in der Schule ihres Sohnes, hat sie es dann aber wiederum nicht kommen sehen, obwohl das Haus des Collège weit grösser ist als das der schon geschlossenen Grundschule, die nur ein paar Meter entfernt liegt. Sie hat also, wie schon am Montag ihre Tochter, auch ihren Sohn geschickt, dieses Mal aber gewissermaßen nicht unvorbereitet, sondern vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Grundschule ihrer Tochter schon geschlossen ist. Aber noch immer glaubt sie, dass nur die Grundschule geschlossen ist und nicht auch das Collège, das noch nicht geschlossen ist. Und trotzdem hätte man natürlich aus dem bloßen Umstand, dass in der Grundschule die Gefahr abzusehen war, schließen können, dass für das Collège die Gefahr ebenso abzusehen war.
Wie immer habe ich nichts gegen Eltern, die die Gefahren nicht absehen (zumindest dann nicht, wenn sie nicht gereist sind), aber Eltern, die behaupten, sie hätten die Gefahren abgesehen und ihre Kinder weiter in die Schule schicken und sich zu keinem Protest veranlasst sehen, die verängstigen mich. Die Eltern, die stets behaupten, dass alles abzusehen war, gleichzeitig das Verb „absehen“ aber nur in der Hinsicht brauchen, dass sie absehen von dem, was längst eingetreten ist, so dass das, was danach weiter abgesehen werden muss, nicht gesehen wird, sondern immer weiter und weiter geht – diese Eltern also, sage ich, lernen nichts, und insofern sehe ich traurig von der Möglichkeit ab, irgendetwas von ihnen zu erwarten.
Optimismus
Sonntag abend: Dominique, Geographielehrer, Vater eines älteren Sohnes und jüngerer Zwillingstöchter, von denen eine schwer asthmakrank ist, gibt sich am Telefon optimistisch. Er denke nicht, dass das Ansteckungs-Risiko besonders hoch sei, er schicke seine Kinder auf jeden Fall. Seine Töchter, 9 Jahre alt, hielten das Maskentragen nicht aus. Er findet, dass Masken so jungen Kindern nicht zuzumuten sind. Wie die Schule die Kantine organisiert, weiß er nicht. Er hat sich nicht erkundigt.
Montag nachmittag: Die Grundschule, in der die beiden Zwillinge gehen, schließt, nachdem sich herausgestellt hat, dass – siehe oben – eine der Lehrerinnen krank ist und mit einem Teil des Kollegiums zusammen gegessen hat. Die Schule hat einen Tag gedauert. Dominique ist nicht mehr optimistisch. Aber irgendwie ist er’s doch. Er zuckt die Achseln, meint, damit werde man wohl jetzt dauernd leben müssen. Über die Organisation der Kantine weiß er noch immer nichts.
Mittwoch nachmittag: Es wird bekannt, dass auch das Collège von nebenan eine Kranke aufweist. Dieses Mal handelt es sich um eine Schülerin. Ich schlage per Mail eine kollektive Aktion vor, um darauf hinzuweisen, dass das Zusammentreffen von 2000 Schülerinnen in der Kantine die idealen Bedingungen für den nächsten Hotspot abgibt. Ich bekomme keine Antwort. Dominique und seine Frau schweigen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ihr Sohn schon im Gymnasium und nicht mehr im Collège ist. Doch auch die Grundschule hat eine Kantine, und auch für die ist nichts geregelt. Sich nicht für’s Collège zu interessieren, weil man kein Kind hat, das dorthin geht, spricht erneut für Dominiques Optimismus.
Die Hartnäckigkeit dieser Haltung hat etwas Erstaunliches an sich. Sie macht mich rasend, obwohl meine Kinder nicht asthmakrank sind, obwohl ich meine Kinder nicht zur Schule schicke, obwohl sie auf keinen Fall in der Kantine essen werden und sowieso noch nie gegessen haben. Und doch weiß ich genau, dass wir alle mit in dieser Kantine essen, auch die, die nicht dort essen. Die Kantine ist unserer aller Treffpunkt. Warum versteht Dominique das nicht? Wie vermag er sich diese Mischung aus Optimismus und Fatalismus zu bewahren?
Zum ersten Mal entdecke ich, wie sich Kassandra gefühlt haben muss. Würde ich sie darstellen müssen, würde ich sie schlaflos zeigen und dem Wahnsinn nahe. Nicht weil sie betroffen wäre. Sondern weil sie nicht ertragen kann, dass die Betroffenen sich nicht betroffen fühlen.
Anne Peiter