Wörterbuch 13: Normgerecht

In einer Vorlesung des Zentrums für Lehrer:innenbildung der Universität Leipzig, die von Sprach- und Sprechstörungen handelt, fällt immer wieder der Begriff »normgerecht«. Allerdings meist im Zusammenhang mit der Negation, dass also etwas etwas nicht normgerecht sei. Es geht um die Erscheinungsweise des Nicht-Normgerechten und darum, dass man dringend etwas zu unternehmen habe, falls es einem bei den Schülerinnen und Schülern und bei einem selbst auffällt. Das wird uns von der sympathischen Dozentin mit glockenklarer Stimme wieder und wieder eingebläut. Nun will ich gar nicht in Abrede stellen, dass es Erkrankungen des Stimmapparates gibt, die behandelt werden müssen. Ich will nicht leugnen, das bei der Sprachentwicklung eines Kindes Verzögerungen und Störungen auftreten können. Dennoch irritiert mich diese Ubiquität der Norm und des Normgerechten. Wir leben in der Zeit; das Leben ist Krankheit zum Tode. Niemand ist ganz gesund, ganz »in der Norm«. Die Grenzen zwischen Individualität und Krankheit sind fließend. Aber mein Eindruck ist, dass dem Eigensinnigen und Individuellen durch seine Deklaration zum Nicht-Normgerechten, die Spitze abgebrochen wird. Ja: Am Ende ist Individualität selbst die Krankheit, die es auszurotten gilt.1



Anmerkung

1 Wie ist es mit den Dialekten? Auffallend viele der Tonbeispiele, die uns die Dozentin präsentiert, sind offenkundig Menschen abgenommen, die im Dialekt sprechen. Der Eindruck entsteht, dass bereits der Dialekt das Falsche und nicht Normgerechte ist. Soll jetzt bei uns, der verspäteten Nation, die vielstimmige Pluralität sprachlichen Eigensinns pathologisiert werden?

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