Die Stimme Deutschlands 

Eben ein Deutschlandfunk-Kalenderblatt zur Erinnerung an Pierre Brice, den deutschen Winnetou, der ein Franzose war [1]. Darin ein Einspieler aus „Der Schatz im Silbersee“ und die unangenehme Entdeckung, dass die Männer – Frauen spielen bei Karl May keine Rolle –, wenn sie zum Pathos sich verstehen, in den Duktus verfallen, den wir aus Hitlerreden kennen: das Gepresste, Angestaute, niemals sich und andere Freigegebende; ein permanenter Erregungszustand, ohne dass es jemals zu einer Entlastung und Entladung käme. (Doch, es gab sie, diese Entladung, die einzige mögliche: Krieg, Zerstörung und Tod). 

Meine Gedanken breiten sich aus. Viele Hörspiele aus der Nachkriegszeit fallen mir ein, Aufzeichnungen von Theaterstücken, angesichts derer eine unbefangene Hörerin, die kein Deutsch verstünde und allein mit dem Duktus der Stimmen zu tun hätte, nicht darauf käme, dass der Nationalsozialismus vergangen sei. Und in gewisser Hinsicht ist er es auch nicht. Er lebt fort in den Stimmen, in den Körpern, die diese Stimmen haben, in der Anspannung, die sie beseelt und aus dem NS in die Nach-NS-Zeit konvertiert wurde, um den NS unten zu halten. Die Verdrängung entnimmt einen Teil der für sie nötigen Energie dem Verdrängten, heißt es bei Freud. So war es auch hier .

Genau. So war es. Das alles ist doch lange her, niemand spricht mehr so, hat es noch irgendein gegenwärtiges Interesse? Es gibt wenigstens zwei künstlerische Positionen, in denen die Auseinandersetzung mit der Stimme Deutschlands, dem enervierend unvergesslichen Pathos der Hitlerreden sich fortsetzte, bzw immer noch fortsetzt. Nina Hagen zum einen, das überwältigende Rockpalastkonzert von 1978 [2], worin die damalige Queen of Mainstream Queerness, die Frausein als eine Art theatrale Transvestitenexistenz behauptete, die Hitlerstimme durch die Maschinerie ihres Begehrens schickte: Quellpunkt und Gegenstand einer sexuellen Erregung, die an der Macht sich berauscht und durch die Idee der Unterwerfung und des Unterworfenseins hochgetrieben wird. – Rammstein bildet dazu das maskuline Pendant. Ein paar Bauteile wurden ausgetauscht, der Sound ist nicht so dreckig, und die Körper, von denen die Stimme Besitz ergriffen hat, sind betont unzweideutig (und also doch wieder zweideutig) männlich. [3]

Beide, Nina Hagen und Rammstein, zeugen von der fortdauernden Macht der deutschen Stimme, DER deutschen Stimme in Zeiten, in denen sie aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden ist, in der alle und zumal die Politiker, ganz anders reden, in denen aber der Geist, aus dem sich diese Stimme gebar, noch immer da ist und zusehends sichtbarer umgeht. Die Stimme führt den Faschismus auf seine Basis zurück, auf ein bestimmtes Verhältnis zum eigenen Körper, und, darin liegend, auf ein bestimmtes Verhältnis zu anderen Körpern.




[1] https://www.deutschlandfunk.de/pierre-brice-winnetou-102.html 

[2] https://www.youtube.com/watch?v=VdsPft_uaNg&pp=ygUVbmluYSBoYWdlbiByb2NrcGFsYXN0 

[3] https://wolframettetexte.wordpress.com/2019/04/17/deutschland-2/

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