Heutemorgengesternheute

9. November 2022

In dieser Situation, in der Ratlosigkeit um sich greift, wie wir uns retten können, spüre ich, wie dicht die Erfahrungen rund um 1945 unter der Haut sitzen. Vielleicht war das ökologische Engagement einer bestimmten Generation in (West?-)Deutschland nicht viel mehr als das Weitertragen des Kriegs- und Nachkriegstraumas und der Verzicht weniger eine moralisch-politische als eine anamnetische Notwendigkeit voller Erinnerungen: an eine Luft, die kalt war und staubig, ans Sich-Ernähren vom Allerwenigsten, an den Hunger, der nicht aufhörte, ans Frieren, aufgeschundene Füße in schlechten Schuhen und an den Geruch von gebackenen Kartoffelschalen; ein Hochkommen des Bewusstseins, dass es alles nur einmal gibt. In meine Eltern hatte es sich eingebrannt, die Unfähigkeit, Lebensmittel wegzuwerfen, Suppen am Samstag, die „gemischte Wochenübersicht“ hießen; jede Margarinedose wurde aufgehoben, um darin Kompott einzufrieren; was der Garten bot, galt als heilige Verpflichtung und bis zur Selbstaufgabe wurde neben Beruf und Familie gerackert, um nichts verkommen zu lassen. „Ich bin ein Kriegskind, ich kann nicht anders“. Es waren die inneren Kriegsschäden, die sie in sich trugen; erst ganz allmählich, in den letzten zwei Jahrzehnten, baute sich das ab und sie wurden großzügiger.

Mit mir hatte das nichts zu tun. So dachte ich, als ich ihren Erzählungen lauschte. Ich frage mich aber nun, ob meine relativ strikte ökologische Haltung bloß weltanschaulich verallgemeinerte, was meinen Eltern direkt und buchstäblich zugefügt worden war. Häufig umgaben Szenarien, wie sie jetzt, und noch ganz andeutungsweise, in der Luft liegen, das, was was ich dachte und machte. Passte die Batterie von dickwandigen Shampooflaschen, wie sie den Badewannenrand mancher WG säumte, in die Welt des Mangels, von der ich träumte — im doppelten Sinn des Wunschtraums und des Alptraums? Zwei Autos pro Haushalt? Gut geheizte Konzertsäle? Sommerskihallen? Im Winter, umgeben von Heizstrahlern, draußen sitzen? Alles immer, jederzeit, sofort; das Leben im Standby-Modus? Serverfarmen, deren Stromverbrauch den der wirklichen Welt allmählich übersteigt? Die Welt, die sachte an die Ränder meines Bewusstseins stieß, kannte nur Kernseife, Fahrräder, Konzerte im Wintermantel. Aber eine solche Welt habe ich nie gesehen. Mir wird klar, dass sie mit Erfahrungen der Vergangenheit gesättigt ist, die ich nicht gemacht habe, aber in mir trage. Ein merkwürdiges Glücksgefühl verbindet sich damit, nicht frei von schlechtem Gewissen, aber doch erkennbar.

Und noch eine zweite Zeit kehrt wieder, eine Zeit, die zwar schon „meine Zeit“ gewesen ist, die ich aber, wie so viele, komplett vergessen hatte: die Jahrzehnte der siebziger und achtziger Jahre, meine Kindheit und Jugend, die Anfänge der Umweltbewegung, alternative Lebensformen, die in die Breite diffundierten und selbst in der Provinzstadt, in der ich groß wurde, ankamen; kleine Festivals im Wald, zusammengehauene Bühnen zwischen jungen Bäumen verteilt, Straßentheater gab es, Renaissancemusik, Folk — was so aus dem bürgerlichen Consensus herausfiel. Und jetzt wird wieder über autofreie Sonntage nachgedacht. Es ist das Jahrzehnt, in dem ein Buch mit den Worten begann: Es steht nicht gut um uns. Die Hoffnung, daß wir noch einmal, und sei es um Haaresbreite, davonkommen könnten, muß als kühn bezeichnet werden … Darüber werden unsere Kinder die Zeitgenosse der Katastrophe sein und unsere Enkel uns verfluchen — soweit sie dazu noch alt genug sein werden. Das Jahrzehnt von Havemanns ‚Morgen‘, von ‚Die Grenzen des Wachstums‘ und ‚Global 2000‘.

All das war da, war weg, ist wieder da, als ob es nie weggewesen wäre — und zwar, weil es weg war. Das Vergessen hat gemacht, dass diese Zeit gleichsam schwebend in der Luft stehen geblieben ist, ein eigener, kristalliner Raum, in dem es kein Alter gibt und keine Vergängnis. It’s the last hour of the last day / Of the last happy year singt Bob Dylan, und auch, wenn’s danach noch glückliche Jahre gab: es ist dieser Blick, der ihm zeitlose Schönheit verleiht.

In der „Krabat“-Adaption ‚Die schwarze Mühle‘ spricht Jurij Brezan davon, dass es zwei Zeiten gibt. Die eine heißt „Gesternheutemorgen“ und rennt immer voran. Die andere heißt „Heutemorgengesternheute“ und ist ein Ring. In der Geschichte hat der Schwarze Müller die Zeit zum Ring geschmiedet, es ist böse Zeit, die ihm gehört und es ihm erlaubt, sich in andere zu verflüchtigen, wenn er bedroht wird. Die Frage ist, ob das so sein muss, ob der Ring der Zeit böse ist. Es ist die Frage, ob die Zeit „Heutemorgengesternheute“ nur die traumatische Zeit ist, die nicht vergehen will, bzw. ob das so schlimm ist. Ist nicht jede große, wirklich bedeutende Erfahrung eine, die im Modus des „Heutemorgengesternheute“ stattfindet? Eine, in der die Trennwand zwischen den Zeiten nurmehr ein dünnes Häutchen ist, durchscheinend und kurz davor, zur zerreißen. Ist nicht jeder entscheidende historische Moment, jede große Liebe, die uns begegnet, eine Selbstbegegnung der Zeit, die sich ausstreckt und weit in sich zurückläuft und sich klirrend und sirrend mit sich selbst überlagert? Ist nicht der große Augenblick „Verweile doch …“ keineswegs herausoperiert aus der Zeit, nicht Stillstand, sondern Summe, Kreis, zu sich zurückkehrende Selbstumfassung? Und ist der Zustand, in den ich dann eintrete, einer, bei dem Begriffe wie Glück und Unglück, Zufriedenheit und Unzufriedenheit, nicht verfangen, und der sich nur mit schwierigen Begriffen wie „bedeutsam“ oder „schicksalhaft“ umschreiben lässt?

Die Zeit ist ein Ring. Das Morgen im Heute setzt Bilder aus dem Gestern frei. Ich stehe im Fluß der Zeit, kein Schwimmer. Rasend dreht sich die zweite Zeit um mich, eine stehende Welle. Das Gesternheutemorgen ist weit weg. Altern und Tod sind zurückgewichen. Was sie balanciert, ist das Leben in einer kaum erträglichen Intensität. Angesichts dessen ist die Frage, ob wir uns noch retten können, das Wichtigste von der Welt, aber so wichtig auch wieder nicht.

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