Der Erschütterungsoktroi

Es sei, so die Publizistin Stella Leder, jetzt die

„Aufgabe von linken Intellektuellen, egal was sie vor dem 7. Oktober gedacht haben, gesagt haben, geschrieben haben, sich davon erschüttern zu lassen und die eigene Sichtweise zu überprüfen. Und das geschieht bisher wenig oder gar nicht.“

Es klingt schon skurril, Erschütterung bzw. Erschüttertwerden in die Jobbeschreibung der Intellektuellen aufzunehmen, die bislang, kopflastig wie sie auf die Welt gekommen sind, wenig davon wussten. Man denkt: Es ist nicht viel dagegen einzuwenden. Erschütterung ist richtig und wichtig, und seine Ansichten sollte man ohnehin immer wieder überprüfen.

Aber es geht hier nicht um irgendwelche Ansichten. Die „linken Intellektuellen“, von denen hier die Rede ist, waren zuvor oder sind noch immer vielmehr dezidiert der Meinung, dass Israel entweder in toto ein Unrechtsstaat sei, oder sich durch seine Unterdrückung der Palästinenser in ein kaum wiedergutzumachen das Unrecht gesetzt habe. Die Erschütterung wiederum, die ihr oder ihm verordnet wird, soll bewirken, dass sie ihre Meinung grundegend ändern, und zwar in Richtung einer proisraelischen Position.

Einmal angenommen, Israel habe sich durch sein Vorgehen gegen die Palästinenser in den letzten Jahrzehnten tatsächlich ins Unrecht gesetzt – dann wird das durch das Unrecht der Hamas sicherlich nicht gut gemacht. Es ist halt beides Unrecht, noch mehr Unrecht auf diesem geschundenen Flecken Erde. Menschenleben wiegen einander nicht auf. Es wird bloß alles immer schlimmer. Falls ich mich deswegen zuvor mit der palästinensischen Widerstandsbewegung solidarisch gefühlt haben sollte, könnten sich meine Empfindungen in den Tagen nach dem 7. Oktober eingetrübt haben. Und wenn ich nun zu der Meinung komme, dass die Offensive Israels einen Akt legitimer Selbstverteidigung darstellt, dann rechtfertigt das doch keineswegs das, was zuvor geschah.

Natürlich kann es vorkommen dass ein einzelnes Ereignis alles und also auch die Vergangenheit ändert und in ein andere Licht rückt. Traumatische Trennungen können diese Wirkung haben. Die geliebte Person erscheint mir nun als Monster, als böse durch und durch und von Anfang an. Ich bin so unendlich verletzt, dass ich das Feindbild brauche. Aber treffe ich damit die Wahrheit? Eine Wahrheit gewiss, aber ist sie nicht einseitig und verzerrt?

Mein Eindruck ist, dass sich hinter der „Erschütterung“, die Frau Leder von uns fordert, etwas Vergleichbares verbirgt. Sie wäre eine quasi-kultische Vokabel, der Schauder eines heiligen Ereignisses, das zur Bekehrung führt. Ist es das? Dann wäre das, was Frau Leder von den „linken Intellektuellen“ verlangt, wortwörtlich ein sacrificium intellectus im Namen eines Traumas, das jede Reflexion hinwegfegt. Man soll Besonnenheit, historisches Wissen und gesunden Menschenverstand, der einem sagt, dass bei solchen, seit Jahrzehnten brodelnden Konflikten (für Trennungen gilt ja Ähnliches) sich beide Seiten ins Unrecht setzen, immer schon und immer wieder. Das heißt aber auch, dass beide Seiten ein Recht auf ihrer Seite haben. Wenn es diese Betroffenheitsmaschinerie bedarf, um Israels Recht hervorzuheben, dann stünde es wahrlich auf schwachen Füßen.

Wie meistens, wenn es in Deutschland um Israel geht, geht es nicht um Israel. Es handelt sich um ein innerdeutsches Streitgespräch, das mit unserer Geschichte, das heißt der nationalsozialistischen Judenvernichtung zu tun hat. Es ist das alte Thema der Opferkonkurrenz. Wem gelingt es, der moralisch unanfechtbaren Position des Opfers am nächsten zu kommen? Wenn ich der Gegenseite Erschütterung verordne, so heißt dies ja, dass ich selbst schon erschüttert bin, nicht mehr ich selbst, sondern identifiziert mit den Opfern. Und es meint, dass die Gegenseite von sich aus dazu unfähig sei, herzlos, unempathisch wie sie sei, und überdies die deutsche Schuld vergessen machen wolle. ‚Ich Jude – Du Nazi‘: das ist das Spiel, das hier wieder einmal gespielt wird; und dass es in der letzten Zeit vermehrt gespielt wird, könnte ein Indiz dafür sein, das die Bewältigung der deutschen Vergangenheit jetzt erst anzufangen hätte.

Ob es diese Gegenseite, also die „linken Intellektuellen“, die sich geschlossen für die Sache der Palästinenser einsetzen, überhaupt noch gibt, und wenn ja, ob sie zahlenmäßig überhaupt ins Gewicht falle, möchte ich bezweifeln. Die antiisraelischen Demonstrationen scheinen mir von – im weitesten Sinne – arabischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern dominiert zu sein. Auch im Kulturbetrieb scheint es, anders als Frau Leder nahelegt, durchaus nicht die Regel zu sein, sich derzeit für Israel einzusetzen. Der Bitte des Journalisten, Namen zu nennen, konnte oder wollte sie jedenfalls nicht nachkommen. Es ist der Mechanismus der konformistischen Rebellion, das Lieblingskind öffentlicher Polemik: Die Mehrheit tut so, als sei sie die Minderheit. Ich habe nicht den Eindruck, dass Frau Leder allein auf weiter Flur mit einer Übermacht palästinenserfreundlicher Intellektueller kämpfen würde. Sie sind eine Abstraktion, es ist der Akt der Abgrenzung, die rote Linie, die ihn erschafft. Ich bin erschüttert, die anderen sind es nicht, um … ja, warum eigentlich?

Am Ende geht es einfach um die Quote. Am Ende geht es nicht um Palästina oder Israel, sondern immer um die Quote.

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